Lernen aus Erfahrung – wie Sie Grenzen zusammen mit Ihren Kindern austesten

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ein Vater mit zwei Kindern, der den Flugdrachen wieder vom Baum herunterholt

Für viele Eltern stellt sich die Frage, an was sie merken, ob ein Jugendlicher zu viel oder zu wenig Freiraum hat. Ich möchte Ihnen anhand eines Beispiels zeigen, wie Sie Grenzen und Regeln nicht willkürlich setzen, sondern mit Ihrem/Ihrer Jugendlichen zusammen herausfinden, wo seine/ihre Grenzen wirklich liegen.


Ein Beispiel – Lars (14) möchte länger gamen

Lars (14) ist total frustriert:

„Meine Eltern sind wirklich das Letzte! Die denken doch echt, dass eine Stunde Videogames spielen pro Tag schlimm ist, dabei hängen die doch selber nur am TV. Haben die echt das Gefühl, ich lerne für Mathe, wenn die mich so tyrannisieren?“

Seine Eltern Andrea (42) und Christian (48) sind am Anschlag:

„Dieser Junge will es einfach nicht verstehen. Es ist doch wirklich mehr als genug, wenn wir ihn eine Stunde pro Tag spielen lassen. Schließlich ist das im Anbetracht seiner schlechten Schulleistungen vergeudete Zeit und er muss doch verstehen, dass die Schule für ihn und sein Leben wichtiger ist.“


Der Mensch lernt durch Erfahrungen, nicht durch Regeln

Wie wichtig das Lernen aus Erfahrungen ist, sieht man bereits bei Kleinkindern. Sie verstehen erst, warum sie nicht auf den Baum klettern sollen, wenn sie mal runtergefallen sind. Für Lars ist es ein Rätsel, wie seine Eltern auf die Grenze von 60 min pro Tag kommen. Damit ist er nicht alleine. Für Jugendliche ist es generell enorm schwierig, sich an Regeln zu halten mit denen sie a.) nicht einverstanden sind und die b.) für sie nicht nachvollziehbar sind. Versuchen die Eltern von Lars diese Regel mit aller Kraft durchzusetzen, kann es sein, dass er massiven Widerstand leistet. Vielleicht eskaliert die Situation sogar so weit, dass Lars (unbewusst) aus „Protest“ gegen die Eltern nicht für die Schule lernt, nur um ihnen zu beweisen, dass sie falsch liegen.


Irrtum: Grenzen überschreiten heisst nicht „es ist etwas falsch“

Deshalb wäre es für Lars wichtig, seine Grenzen direkt zu erfahren, damit er sich und seine Eltern versteht. Damit er seine Grenzen erfahren kann, kann es auch notwendig sein, diese zu überschreiten.


Beweise uns, dass Du es kannst! Testen Sie Grenzen zusammen mit Ihrem Jugendlichen aus.

Die Eltern von Lars könnten ihm zugestehen, dass 60 min pro Tag wirklich eine willkürliche Grenze ist und mit ihm auf die Suche nach einer neuen Grenze gehen. Dabei wäre es wichtig, ihm probehalber mehr Freiheit zu geben und zu analysieren, wie sich das auf Lars auswirkt. Klappt dies nicht, müssen die Eltern einen Schritt zurück gehen. Dies können die Eltern mit Lars so lange wiederholen, bis die „natürliche“ Grenze gefunden wird. Das Gespräch, das die Eltern mit Lars führen, könnte in etwa so aussehen:

Okay Lars, wir haben verstanden, Du willst mehr gamen. Wir denken aber, Du könntest die Kontrolle über die Schule verlieren, wenn Du noch mehr spielst. Aber vielleicht bist Du auch erwachsener als wir denken. Das kannst Du uns beweisen.

Wenn sich Deine Noten in den nächsten vier Wochen verbessern, würden wir merken, dass wir übertreiben. Dann lassen wir Dich 90 min spielen. Wenn es dann immer noch klappt mit den guten Noten, betrachten wir dies als neue Grenze.

Bleiben Deine Noten aber die nächsten vier Wochen schlecht, wollen wir Dir helfen, in dem wir jeden Tag mit Dir zusammen Deine Hausaufgaben vor dem Spielen kontrollieren, bis es besser klappt. Dann müssen wir auch überlegen, ob es für Dich Sinn macht, nur noch am Wochenende zu spielen.


Die Eltern zeigen die Bereitschaft, Lars den Beweis erbringen zu lassen, dass sie sich irren. Der Anreiz, seinen Eltern etwas zu beweisen und dadurch mehr Freiheit zu erlangen, kann Lars dazu motivieren, mehr für die Schule zu tun. Kriegt Lars die Kurve nicht von selber, ist das eine wertvolle Erfahrung. So lernt Lars, dass seine Eltern vielleicht doch (ein bisschen) recht hatten und dass er sich überschätzt hat. Verbessern sich seine Noten, lernen seine Eltern daraus, dass sie ihm mehr zutrauen sollen.

Achtung: Dieses Beispiel soll nicht sagen, dass Gamen in einem direkten Zusammenhang mit schulischen Leistungen steht. Das kann so sein – muss es aber nicht (siehe Artikel über Argumente von Eltern gegen das Gamen). In der Realität sind Zusammenhänge oft komplizierter und weniger offensichtlich, als in diesem erfundenen Beispiel. Dasselbe Beispiel könnte auch an anderen Sachverhalten angewendet werden, z.B.: Abends aufbleiben, pünktlich nach Hause kommen, Termine einhalten, etc.


Erziehen ist ein wenig wie Drachenfliegen

Stellen Sie sich vor, sie halten einen Drachen in den Wind. Je mehr der Wind bläst, desto enger müssen Sie den Drachen halten, um ihn zu kontrollieren und zu steuern und um einen Absturz zu vermeiden. Bläst nur ein laues Lüftchen, kann man den Drachen ruhig mal weit hinaus in den Himmel fliegen lassen. Die Hände bleiben aber fest an den Seilen und Sie müssen den Drachen und den Wind jederzeit genau beobachten, um korrigieren zu können.

Dieses Bild lässt sich auf die Erziehung übertragen. Der Flugdrache wäre in dieser Analogie der Jugendliche und die Seile symbolisieren das Ausmass an Raum und Freiheit, die sie ihrem Jugendlichen geben. Je besser das „Drachenfliegen“ mit kurzen Seilen klappt, desto mehr Raum und Freiheiten kann man einem Jugendlichen eingestehen.


Wo macht Austesten keinen Sinn?

Natürlich gibt es auch Bereiche, wo ein Austesten von Grenzen keinen Sinn macht oder eine Gefahr für den/die Jugendliche(n) darstellen kann (z.B. Fahren ohne Velohelm, Drogen, etc.). Es liegt an den Eltern, zu beurteilen, welche Regeln sich wirklich um die Sicherheit des Jugendlichen drehen und wo es durchaus auch mal Spielraum gibt, etwas auszuprobieren. Wollen Jugendliche zusammen beispielsweise mal eine Freinacht machen und am andren Tag in die Schule gehen – warum sollen sie dies nicht einmal ausprobieren dürfen? Sie lernen daraus ihre Grenzen kennen und werden die Eltern das nächste mal besser verstehen, wenn sie eine Freinacht verbieten (okay, Lehrer haben hier vermutlich eine andere Meinung als ich als Psychologe).


Nochmals in Kürze

  • Regeln und Grenzen sind oft willkürlich festgelegt.Die „natürlichen Grenzen“ eines Jugendlichen liegen aber nicht zwingend da, wo die Eltern diese ansetzen.
  • „Natürliche Grenzen“ kann man aber austesten und finden.
  • Das Überschreiten von Grenzen ist in vielen Bereichen wichtig (manchmal unverzichtbar), um diese zu erfahren und zu integrieren.
  • Eltern müssen entscheiden, wo man Grenzen austesten kann und wo dies nicht im Interesse des/der Jugendlichen liegt respektive, wo dies den Jugendlichen in seiner Entwicklung gefährdet.
  • Jugendliche austesten zu lassen, kostet Eltern Mut.
  • Grenzen und Regeln verändern sich mit der Zeit und müssen stetig neu angepasst werden.

Literaturtipp: Grenzen, Nähe, Respekt: Auf dem Weg zur kompetenten Eltern-Kind-Beziehung (Jesper Juul, 2016)

 

 

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