Jugendliche sehen oft das Problem nicht
Nur selten melden sich Jugendliche selber bei einer Anlaufstelle wie einer Jugendberatungsstelle, einer psychotherapeutischen Praxis oder beim Hausarzt, wenn sie das Gefühl haben, das Spielen nicht mehr im Griff zu haben. Neben der entwicklungsbedingten und kulturellen Hemmschwelle (besonders junger Männer), sich Hilfe zu holen, haben jugendliche Gamer zudem oft eine verzerrte Wahrnehmung, was ihr eigenes Spielverhalten betrifft. Durch das „Flow-Erleben“ während des Spiels fällt es den Spielern schwer, die effektiv gespielte Zeit an der Konsole oder am Computer abzuschätzen. Zudem bewegen sich Gamer oft in einem sozialen Umfeld, in welchem stundenlanges Spielen eher positiv als negativ bewertet wird. Somit sehen Jugendliche das Problem meist nicht bei sich selber, sondern darin, dass sie durch die Eltern aufgrund ihres Spielverhaltens „genervt“ werden.
Meist schlagen Eltern Alarm
Deshalb sind es meist die Eltern, die Alarm schlagen und sich aufgrund des Spielverhaltens ihrer Jugendlichen bei Fachpersonen melden. Oftmals sind diese zwar verunsichert, ob sie die Situation richtig einschätzen, liegen aber mit ihrem Bauchgefühl häufig richtig, dass zuhause etwas nicht mehr stimmt. Ob es sich um eine klassische, ausgewachsene Computerspielsucht, eine verdeckte Depression, soziale Ängstlichkeit oder um eine pubertäre Krise handelt, ist sehr unterschiedlich. In all diesen Fällen jedoch lohnt sich der Gang zum Psychologen. Im Folgenden wird ein idealtypischer Verlauf der Behandlung einer Computerspielsucht geschildert.
Der grösste Schritt ist derjenige in die Praxis
Die Kinder sind oftmals nicht begeistert wenn die Eltern ihnen sagen, sie seien bei einer psychologischen Fachperson
zu einem Gespräch angemeldet. Oft besteht die Fantasie, die Fachperson sei der verlängerte Arm der Eltern, welche ihnen nochmals in konzentriertem Masse mit erhobenem Zeigefinger diejenigen Erziehungsinterventionen antut, unter denen es gegenwärtig vermutlich sowieso leidet. Mit dieser Einstellung können Teenager jede noch so gute Beratung und Behandlung blockieren. Gerade deshalb ist der wichtigste Schritt, den eigenen Jugendlichen für den Gang zur Fachperson zu gewinnen.
Die Neudefinition des Problems
Manche Jugendliche sind Experten darin, etwas zu verhindern oder zu blockieren, was ihnen nicht passt, sei es auch noch so gut gemeint. Ein Ansatz, der die Notwendigkeit des Blockierens aus sicht der Jugendlichen verhindert ist der ansatz von Jürg Liechti (Dann komm ich halt, sag aber nichts (Jürg Liechti, 2003)). Die Idee besteht darin, das Problem zugunsten einer höheren Chance des Gelingens einer Therapie umzuformulieren. Dies soll mit einer Haltung von „nicht du hast das Problem, sondern ich habe das Problem“ erreicht werden. Eltern bitten ihr Kind als Auskunftsperson – und nicht als schwarzes Schaf zu einer Fachperson mitzukommen.
Du, ich mache mir in letzter Zeit wirklich sorgen über Dein Spielverhalten. Ich mache mir so viel Sorgen, dass ich mich sogar bei einer Fachperson gemeldet habe. Ehrlich gesagt kann ich nachts gar nicht mehr gut schlafen und ich bin auch sicher, ich nerve dich ganz schön mit meinen ständigen Drohungen, den Stecker zu ziehen. Und du sagst mir ja ständig, dass alles in Ordnung sei. Können wir mal zusammen dort hin gehen und zusammen herausfinden, ob ich mir wirklich übertrieben Sorgen mache oder ob du vielleicht doch zu viel spielst?
Mit dieser neuen Definition gibt es auch für den Jugendlichen einen potentiellen Gewinn beim Gang zur Fachperson, nämlich dass die Eltern endlich mal aufhören zu nerven. Das Ziel, dass Eltern weniger nerven müssen, ist beim Gelingen der Therapie sogar sehr realistisch. Wichtig bei der neuen Problemdefinition ist, dass Eltern wirklich anerkennen, dass das sogenannte „Problem“ von verschiedenen Seiten her betrachtet werden kann. Auch wenn sich Eltern natürlicherweise in diesen Dingen oft todsicher sind, „recht zu haben“, lohnt es sich, einen Schritt zurück zu treten und die Situation neu anzuschauen. Es gibt verschiedene Seiten der Wahrheit. Für Jugendliche, die viel spielen, sind nämlich die Eltern das Problem. Was Eltern unbedingt vermeiden sollten ist es, ihr Kind zu belügen oder zu täuschen. Wenn sie ihrem Kind Disneyland versprechen und die Reise am Eingang einer therapeutischen Praxis endet, müssen sie sich nicht wundern, wenn ihr Kind sie boykottiert. Sind sie nicht bereit, sich selber zu hinterfragen, wundern sie sich nicht, wenn ihr Jugendlicher sich selber auch nicht hinterfragen will.
Computerspiesucht ist gut behandelbar, wenn alle mitmachen
Das Gute ist, dass Computerspielsucht als Symptom im Gegensatz zu anderen Süchten durch eine Psychotherapie mit systemischen Anteilen relativ gut behandelbar ist. Die Voraussetzung dafür ist die Mitarbeit des Jugendlichen und ein kooperatives, reflektiertes Erwachsenensystem. Doch selten ist der exzessive Medienkonsum das eigentliche Hauptproblem. Oft ist sie sogar der Lösungsversuch eines dahinterliegenden Themas, welcher sich mit der Zeit zu einem „eigenständigen Hauptproblem“ ausgewachsen hat. Deshalb ist die alleinige Reduktion des Spielverhaltens oft nur ein Teilziel, welches die Arbeit an tieferliegenden Themen eröffnet.
Mit der Analyse – und nicht mit der „Abrissbirne“ beginnen
Die Not der Betroffenen ist oftmals gross und häufig verstreicht viel Zeit, bis der Jugendliche den Weg in die Praxis macht. Deshalb ist es verständlich, dass Jugendliche und Familien gleichermassen unter Druck stehen. Umso grösser ist die Versuchung mit dem Segen des Therapeuten den „kalten Entzug“ in den eigenen vier Wänden durchzuführen. Doch was passiert wenn man eine Brücke sanieren muss, und diese nicht entsprechend vorbereitet? Sie fällt in sich zusammen. Bevor man eine Brücke sanieren kann, muss genau analysiert werden wo- und welche Stützpfeiler benötigt werden, damit tragende Teile ausgewechselt werden können. Übertragen auf Computerspielsucht soll dies folgendes heissen: Bevor das Suchtverhalten einfach von Aussen abgestellt wird, lohnt es sich, dessen Funktionalität genau zu prüfen. Geht es zu schnell, droht ein Rückfall oder eine Verschärfung der Krise.
- Was hilft das entsprechende Verhalten dem Jugendlichen überhaupt?
- Was erhält der Jugendliche im Spiel, was er sonst im Leben nicht kriegen kann?
- Welche unverwirklichten Fantasien liegen hinter den Charakteren und Geschichten, die der Jugendliche gerne spielt und wie lassen sich diese ins Offline-Leben integrieren?
- Welche Erfolgserlebnisse hat der Jugendliche im wahren Leben? Und wie ist es im Spiel?
- Welcher Frust wird mit dem Spielen betäubt und welche anderen Strategien zur Emotionsregulation gibt es?
- Welche Form von Sozialkontakten pflegt der Jugendliche im Spiel und wie steht es um seinen Real-Life-Freundeskreis?
Gelingt es dem Jugendlichen in der Therapie, diese Bereiche zu erforschen, entsteht ein tieferes Verständnis des eigenen Spielverhaltens. Oftmals mündet diese gar darin, dass Jugendliche erkennen, dass ihnen das Spielen gar nicht viel bringt, oder dass sie ihre Ziele „endlich im wahren“ Leben verwirklichen wollen. Mit dieser Erkenntnis entsteht zwischen dem Jugendlichen und der Fachperson ein neues Arbeitsbündnis, welche die Veränderung des Spielverhaltens und den Aufbau von sogenannten „Ressourcen“ erlaubt.
Ressourcenaktivierung oder „das Errichten der Stützpfeiler“
Versteht der Jugendliche die Bedürfnisse, welche hinter seinem Konsumverhalten stehen, stellt sich die Frage, wie sich diese Bedürfnisse im realen Leben befriedigen lassen. Hier soll ganz konkret gearbeitet werden.
- Braucht es ein neues Hobby?
- Kann die soziale Integration in der Schulklasse verbessert werden?
- kann die Familie die Bedürfnisse des Jugendlichen unterstützen?
- Müssen Regeln in der Familie angepasst oder verändert werden?
- Fühlt sich der Jugendliche in der Familie benachteiligt oder missverstanden? Braucht es Gespräche und Klärung?
- Stimmt der angedachte berufliche Weg für den Jugendlichen?
Alleine durch die Analyse des Spielverhaltens und den Aufbau von spezifisch auf den Jugendlichen ausgerichteten Ressourcen, kann eine Reduktion des Spielverhaltens stattfinden. Jugendliche in dieser Phase der Therapie erleben oft auch eine Entlastung zuhause (die Eltern nerven weniger, denn sie merken, dass „etwas geht“), was das Spielverhalten wiederum positiv beeinflussen kann.
Dosieren und modifizieren
Gleichzeitig zum Aufbau dieser Ressourcen kann mit der Veränderung des Suchtverhaltens begonnen werden. Oftmals ist schon ein grosser Schritt damit getan, wenn der Jugendliche das Computerspiel wechselt und zum Beispiel ein Offline-Arcade-Spiel anstelle eines sehr kompetitiven Multiplayer-Online-Spiels spielt. Grundsätzlich soll der Jugendliche diese Änderungen selber vornehmen. Wo dies nicht gelingt, können Eltern eine wichtige Rolle spielen. Viele Jugendlichen schaffen es, ihr Spielverhalten in eine gesunde Richtung zu verändern. Gelingt dies nicht, kann ein letztes Mittel sein, die Spielkonsole oder den PC in Absprache mit dem Jugendlichen durch die Eltern entfernen zu lassen. Hierdurch wird dem Jugendlichen aber (zumindest kurzfristig) die Chance genommen, die Selbstkontrolle über seinen Medienkonsum zu erlernen, weshalb diese Form von kaltem Entzug in der Regel sehr wenig nachhaltig ist.