Hänsel und Grethel – nichts für schwache Nerven
Kennen Sie das Märchen von Hänsel und Grethel? Genau! Ich meine dasjenige Märchen, in dem die böse Stiefmutter den Vater überredet, die beiden Kinder aufgrund ihrer misslichen wirtschaftlichen Lage im Wald auszusetzen. Völlig verzweifelt und Hilfe suchend gelangen die beiden Kinder an das Haus der bösen Hexe – eine psychopathische Kannibalin, die das Mädchen zwingt, ihren Bruder zu mästen, damit sie ihn essen kann. Zum Glück schafft es Grethel die Hexe wie folgt in den Ofen zu stossen:
„Da gab ihr Grethel einen Stoß daß sie weit hinein fuhr, machte die eiserne Thür zu und schob den Riegel vor. Hu! da fieng sie an zu heulen, ganz grauselich; aber Grethel lief fort, und die gottlose Hexe mußte elendiglich verbrennen.“ (Wörtlich zitiert aus „Gebrüder Grimm, Kinder und Hausmärchen, Band I, 1850“).
Wie alt waren Sie, als Ihnen dieses Märchen vorgelesen wurde? Wie alt waren Ihre Kinder, als Sie ihnen dieses Märchen vielleicht selber vorgelesen haben?
Auch bei Schneewittchen gehts heiss zu und her
Vielleicht denken Sie, es handelt sich hierbei um einen Einzelfall? Dann möchte ich Ihnen die letzten Zeilen aus Schneewittchen in Erinnerung rufen:
Und wie sie hineintrat, erkannte sie Schneewittchen, und vor Angst und Schrecken stand sie da und konnte sich nicht regen. Aber es waren schon eiserne Pantoffel über Kohlenfeuer gestellt und wurden mit Zangen hereingetragen und vor sie hingestellt. Da mußte sie in die rotglühenden Schuhe treten und so lange tanzen, bis sie tot zur Erde fiel. (Ebenfalls zitiert nach Gebrüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen, Band I, 1850)
Brutale Märchen werden sozial besser akzeptiert als brutale Videospiele
Der Grund, weshalb ich Ihnen als Eltern die Brutalität populärer Märchen aufzeigen möchte ist Folgender: Brutale Märchen sind sozial besser akzeptiert als andere brutale Medieninhalte wie Filme und Videospiele. Dafür kann ich mir folgende Gründe vorstellen:
Eltern machten als Kinder selbst die Erfahrung, dass ihnen Märchen nicht schadeten
Es gibt eine soziale Einigkeit darüber, dass Märchen für Kinder geeignet sind
Märchen sind weniger „immersiv“ (d.h. man ist weniger nahe dran) als (bei) Videospiele(n)
Die Moral von Märchen wird als wertvoll erachtet
Eltern fehlt oft die Erfahrung mit Videospielen
Brutale Märchen sind wenig schädlich – aber wieso?
Bei der hitzigen Diskussion, die über die Brutalität von Videospielen geführt wird, könnte man meinen, dass viele Kinder im Anbetracht der brutalen Märchen, denen sie schon früh im Leben begegnet sind, längst traumatisiert wären. Dem ist aber nicht so. Meines Erachtens spielt es eine entscheidende Rolle, in welchem Kontext ein Kind mediale Inhalte wie Märchen, Filme oder Videospiele konsumiert. Findet der Medienkonsum in einem geborgenen, vertrauten Kontext statt, wo die Eltern emotional präsent sind und wo Kinder das Gefühl haben, sich ihren Eltern anvertrauen zu können, wird dadurch eine Verunsicherung der Kinder durch brutale Medien verhindert.
Welche Schlüsse sind darüber im Umgang mit „neuen Medien“ zu ziehen?
Viele Eltern, die die Medieninhalte ihrer Kinder nicht begrüssen, tendieren dazu, diese Inhalte zu ignorieren oder abzuwerten. Dadurch bleibt das Kind beim Konsum dieser Inhalte alleine und die Gefahr einer Überforderung des Kindes steigt. Davon ausgegangen, dass der Kontext, in dem ein Kind gewalttätige Medieninhalte konsumiert eine wichtige Rolle spielt, liegt der Schluss nahe, dass Eltern auch bei gewalttätigen Videospielen, Filmen, Social Media Inhalten, etc. eine Verantwortung für das Wohl ihrer Kinder zukommt. Auch wenn Kinder und Jugendliche Inhalte konsumieren, die die Eltern nicht mögen oder gar gewalttätig sind, sollen Eltern ihre Kinder dennoch konstruktiv darin begleiten – genau so, wie sie das früher beim Märchen erzählen getan haben.
Begleiten Sie Ihre Kinder beim spielen von Videospielen genau gleich, wie Sie das früher beim Märchenerzählen getan haben.
Schaffen Sie eine sichere, wohlwollende Atmosphäre. Ermutigen Sie ihr Kind jederzeit mit allen Themen zu Ihnen kommen zu dürfen.
Wenn Sie gewalttätige Spiele erlauben: Fördern Sie eine konstruktive Kommunikation. Interessieren Sie sich für die Spiele Ihrer Kinder. Werten Sie die Kinder nicht ab, sondern fördern sie den Dialog.
Stellen Sie Fragen danach, wie sich gewalttätige Inhalte auf Ihr Kind auswirken. Regen Sie Ihr Kind zur Selbstreflexion an.
Machen Sie dennoch Regeln, und legen Sie die Inhalte fest, die Ihr Kind konsumieren darf.