Wie entsteht Videospielsucht / Computerspielsucht bei Jugendlichen?

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so entsteht videospielsucht bei jugendlichen

Ein psychosoziales Erklärungsmodell über die Entstehung von Videospielsucht / Computerspielsucht bei Jugendlichen

so entsteht Computerspielsucht bei jugendlichen
Das „Vollbild“ der Entstehung der Computerspielsucht bei Jugendlichen. Auf den ersten Blick sehr komplex und schwierig zu verstehen. Im Folgenden werden einzelne Elemente dieser Darstellung isoliert betrachtet und schrittweise erläutert.

Psychische Faktoren und Umweltfaktoren

Computerspielsucht: die Entstehung von Stress und negativen Emotionen im Jugendalter
Wie aus Entwicklungsaufgaben, Stress und Umweltfaktoren negative Emotionen bei Jugendlichen entstehen

Bei der Entstehung einer Videospielsucht / Computerspielsucht bei Jugendlichen sind psychische Faktoren (Psychodynamik) und Umweltfaktoren beteiligt. Zu den psychischen Faktoren gehören Entwicklungsaufgaben, die Jugendliche in der Pubertät zu bewältigen haben und Stress. Zu den Umweltfaktoren gehören die Leistungsgesellschaft, in der wir uns befinden, so wie die allgegenwärtige Verfügbarkeit von technischen Geräten und Videospielen, die das Gamen quasi jederzeit und überall ermöglichen.


Entwicklungsaufgaben in der Pubertät

Neben der körperlichen Entwicklung, die Jugendliche in der Pubertät durchmachen, stehen auch eine Menge psychische Entwicklungsschritte an. Jugendliche müssen ihre Rolle in der Gesellschaft finden. Gleichzeitig lösen sie sich immer mehr von ihren Eltern ab und entwickeln ihr eigenes Wertesystem. Sie werden sich über ihre sexuelle Identität bewusst und müssen den „umgebauten Körper“ akzeptieren. Erste Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht, Enttäuschungen, Unsicherheiten, Identitätskrisen (wie wirke ich auf Männer/Frauen? Kriege ich jemals eine(n) Freund(in) etc.) vereinfachen diese Aufgaben nicht unbedingt. Jugendliche befinden sich im Teenageralter natürlicherweise in starken Widersprüchen. Sie können sich extrem unabhängig zeigen – und im nächsten Moment sind sie wieder bedürftig und weich. Alles wollen sie selber machen – außer aufräumen und Hausaufgaben. Sie wollen wie Erwachsene behandelt werden und sind es gleichzeitig noch nicht. Die Pubertät gleicht für viele Jugendliche einer emotionalen Achterbahnfahrt. Aufregend, aber auch beängstigend. Die anstehenden Entwicklungsaufgaben verursachen im Zusammenhang mit der sehr fordernden, komplexen Gesellschaft, in der sie ihren Platz finden müssen, Stress und negative Emotionen.


Negative Emotionen – wie damit umgehen?

Die negativen Emotionen, die durch die anstehenden Entwicklungsschritte und den gesellschaftlichen Stress entstehen, sind für Jugendliche in der Pubertät zwar unangenehm – dennoch sind sie eine treibende Kraft für die psychische Entwicklung. Jugendliche müssen sich damit auseinandersetzen, wie sie diese anstehenden Entwicklungsschritte lösen können. Wenn Jugendliche lernen, mit ihrem Körper klar zu kommen, Verantwortung zu übernehmen, wie sie Freundschaften knüpfen und pflegen können und ihren Weg und ihre Rolle in der Gesellschaft langsam finden, dann lässt der Druck dieser Entwicklungsaufgaben langsam nach und einem gesundem Start ins Erwachsenenleben steht nichts im Weg.


Die Abkürzung – Betäubung statt Entwicklung

Computerspielsucht: Negative Emotionen sollten beim lösen anstehender Entwicklungsaufgaben hilfreich sein
So sollte es aussehen: Negative Emotionen helfen beim Lösen anstehender Entwicklungsaufgaben

In der heutigen Gesellschaft, wo Videospiele, Suchtmittel und das Internet für viele Jugendliche fast uneingeschränkt verfügbar sind, ist es verführerisch, die negativen Emotionen zu unterdrücken, statt die damit verbundenen Entwicklungsschritte anzugehen und zu bewältigen. Smartphones und Spielkonsolen erlauben es Jugendlichen potentiell jederzeit, quasi auf Knopfdruck in ein „Flow-Erlebnis“ einzutauchen und den Stress des Alltags und die damit verbundenen negativen Emotionen zu unterdrücken. Die Kraft, die Jugendliche eigentlich für die anstehenden Entwicklungsaufgaben bräuchten, können so in die virtuelle Welt umgeleitet werden.

Salopp ausgedrückt: Statt sich selber zu entwickeln, entwickeln sie virtuelle Charakteren. Statt für die Schule zu lernen, lernen sie Videospiele. Statt sich mit dem anderen Geschlecht zu beschäftigen und Erfahrungen zu sammeln, schauen sie Pornos.

Die Möglichkeit, Bedürfnisse mittels digitalen Medien jederzeit zu befriedigen, kann für Jugendliche im besonderen Ausmass schädlich sein und sie kann die Bewältigung der anstehenden Entwicklungsschritte verzögern oder gar gefährden.

Computerspielsucht: Durch das exzessive Videospielen können negative Emotionen betäubt werden, was die psychische Entwicklung verhindern kann
Durch das exzessive Videospielen können negative Emotionen betäubt werden, was das Angehen der anstehenden Entwicklungsschritte verhindern kann. Diese Dynamik kann in eine Videospielsucht münden.

Die wichtige Rolle der Familie

Jugendliche sind in den stürmischen Zeiten der Pubertät stark auf die familiäre Unterstützung angewiesen. Auch im Zusammenhang mit einer Computerspielsucht spielt die familiäre Unterstützung – insbesondere die Unterstützung durch die Eltern – eine entscheidende Rolle. Auch die Eltern befinden sich im Kontext der Leistungsgesellschaft. Oft fehlt es Eltern dadurch an Energie und Zeit, sich ihren Jugendlichen anzunehmen und sie ausreichend zu unterstützen. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Jugendliche nur mit einem Elternteil aufwachsen, welches neben der Betreuung der Kinder oftmals auch noch das Geld nach Hause bringen muss. Umgekehrt zögern Jugendliche oft, Eltern mit ihren Problemen zu „belasten“, wenn sie merken, dass diese ohnehin überfordert sind. Für Eltern ist es deshalb wichtig, ihre Ressourcen gut einzuteilen, um ihre Jugendlichen in der Pubertät ausreichend unterstützen zu können. Auch sollten Eltern bereit sein, externe Hilfe (Nachbarn, Ex-Partner, Beratungsstellen, Psychotherapeuten, etc.) anzunehmen, wenn sie merken, dass sie ihre Jugendlichen nicht mehr erreichen oder wenn sie überfordert sind.


Suchtverhalten meist Zuhause

Die Rolle der Familie bei der Entstehung / Bekämpfung einer Videospielsucht
Die Rolle der Familie bei der Entstehung / Bekämpfung einer Videospielsucht

Da das Suchtverhalten im Zusammenhang mit Videospielen meist Zuhause stattfindet, haben die Eltern die grösste Chance zu merken, in welchem Umfang der/die Jugendliche digitale Medien konsumiert, während dem das weitere Umfeld der Jugendlichen darüber im Dunkeln bleibt. Dies unterstreicht die Wichtigkeit der Rolle der Familie im Zusammenhang mit Computerspielsucht.


Regeln und Kontrolle

Eltern können durch die Erstellung und Durchsetzung sinnvoller Regeln Einfluss darauf nehmen, wie viel ihre Jugendlichen Videospiele spielen.


In Beziehung bleiben

Durch den Rückzug in die virtuelle Realität belasten viele Jugendliche auch das Verhältnis zur Familie und zu den Eltern. Das ständige Gamen führt zu Streitereien und zu Ohnmachtsgefühlen seitens der Eltern. Für die Jugendlichen ist es äußerst wichtig, dass sie von den Eltern nicht „fallen gelassen“ werden. Eltern sollten immer wieder versuchen, mit ihren Jugendlichen in Kontakt zu kommen und ihnen Beziehungsangebote machen. Auch die Konfrontation und die Durchsetzung von Regeln sollten Eltern nicht scheuen – auch wenn es mühsam ist.


Anmerkungen

Das Modell ist ein Kompromiss zwischen „Einfachheit“ und „Nützlichkeit“. Natürlich hätte man noch weitere Faktoren wie „Ressourcen“, „Resilienz“, „Selbstwirksamkeit“, etc. hinzufügen – oder diskutieren können. Auch gäbe es weitere Verbindungen, die diskutiert werden könnten wie z.B. die Beziehung zwischen Familiärer Unterstützung und den „anstehenden Entwicklungsaufgaben“. Der Übersicht zu liebe wurde darauf aber verzichtet.


Literaturtipp: Digital Junkies: Internetabhängigkeit und ihre Folgen für uns und unsere Kinder. Bert Te Wildt beschreibt in diesem Buch die Sucht nach Medien als Ersatz für unerfüllte Wünsche und Nährboden für neue Verhaltenssüchte wie Videospielsucht. Sehr empfehlenswert für Jugendliche, Eltern und Fachpersonen.

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